Deutsche Außenpolitik zwischen Zaghaftigkeit und globaler Verantwortung
C.H.Beck, München 2014 – www.chbeck.de
Wann wird die Politik von heute eigentlich zu dem, was wir als „Geschichte“ bezeichnen? Kann erst die nächste Generation die Geschichte der augenblicklichen Gegenwart schreiben, weil erst sie die vergangene Epoche als Ganze überblicken kann? Oder kann der heutige Tag bereits morgen Gegenstand der Geschichtsschreibung sein? Das ist eine spannende und sicher auch diskutierbare Frage, die sich dem Leser von Stephan Bierlings Buch „Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart“ gelegentlich stellen mag. Denn der Regensburger Politologe unternimmt hier einen ausgesprochen anregenden Versuch, auf einem sehr heiklen Gebiet deutscher Politik die Grenzen von Geschichtsschreibung, Gegenwartsanalyse und Journalismus zu überschreiten.
Bierling holt den Leser an einem Punkt ab, den man mittlerweile zweifelsfrei als „Geschichte“ wird bezeichnen können, Mauerfall und Wiedervereinigung, und entfaltet von da aus die außenpolitischen Problemlagen, Entwicklungen und Entscheidungen samt den charakteristischen Schwerpunkten der deutschen Regierungen seither. Er gliedert seine Darstellung nach den Kanzlerschaften von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel in drei Hauptkapitel plus Einleitung und Schluss und gestaltet innerhalb der großen Abschnitte einzelne Themenblöcke. Dabei gelingt es Bierling, Ereignisse, die Zeitgenossen seinerzeit in den Medien mitverfolgen konnten, nochmals plausibel zu machen, in Kontexte zu stellen, zu deuten, sodass sich der Leser ein Verständnis der deutschen Außenpolitik der letzten zweieinhalb Jahrzehnte in ihrem Zusammenhang bilden kann. So lässt sich beispielsweise die europäische Einigung von Maastricht bis einschließlich zur Euro-Schuldenkrise noch einmal übersichtlich nachvollziehen, werden die Kriege auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak in ihren Auswirkungen auf die deutsche Politik analysiert und nimmt der Verfasser noch die Erschütterungen in der Ukraine bis zum Frühjahr 2014 in den Blick.
Bei all dem hält Stephan Bierling mit seiner eigenen Position aber keineswegs hinter dem Berg, am deutlichsten in der Bewertung der Außenpolitik Gerhard Schröders, die er für sprunghaft und zu sehr an der Wirtschaftspolitik orientiert hält. Aber auch das außenpolitische Engagement der Regierungen Merkel schätzt er als zaghaft und stark von innenpolitischen Rücksichten dominiert ein. Stattdessen plädiert er für eine klare Linie in der deutschen Außenpolitik, die, eingebettet in einen multilateralen Rahmen, Führungsverantwortung übernehmen und auch bereit sein soll, unbequeme Militäreinsätze mitzutragen und -gestalten. Man muss Bierling sicher nicht in allen Punkten recht geben, aber dass er seine Haltung deutlich macht, ohne sie dem Leser aufzudrängen, dass er stets nachvollziehbar argumentiert, macht sein Buch sehr angenehm lesbar. Es ist auch ohne jegliche politikwissenschaftliche Vorkenntnisse und unabhängig vom politischen Standpunkt eine Lektüre mit Gewinn.
Malte Heidemann