Blickpunkte und Perspektiven
Lebensgeschichte 1931–1937, Fischer Taschenbuch Verlag, 17. Auflage, Frankfurt a. M. 2015 – www.fischerverlage.de
Im dritten Teil seiner Autobiographie ist Elias Canetti mit Ende zwanzig, Anfang dreißig zum selbstbewussten Schriftsteller herangereift, der seine Umgebung vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des heraufziehenden Faschismus mit scharfem Blick durchmisst. Nochmals eindringlicher als im zweiten Band schildert er Zeitgenossen, deren Bekanntschaft er meist in Wiener Cafés oder intellektuellen Salons macht, und verewigt dabei einige von ihnen mit expressiver Sprachkraft. Mitunter sind die Figuren derart plastisch gezeichnet, dass dem Leser die Frage durch den Kopf gehen mag, ob die Welt des Vorkriegswien tatsächlich von solch schillernden Geistern bevölkert war. Oder könnten die Erinnerungen Canettis in diesem Werk, das aus einem Abstand von rund einem halben Jahrhundert zum Geschehen entstanden ist, nicht doch stärker mit seiner Phantasie verschmolzen sein? Da er jedoch zugleich zutiefst ehrlich schreibt, weder seine eigenen Begrenzungen und Fehltritte noch die Charakterschwächen anderer ausblendet, nimmt man ihm alles ab, auch Gestalten, die mehr einem surrealistischen Gemälde als der Wirklichkeit entsprungen sein könnten.
Immer wieder spielen die Augen eine entscheidende Rolle bei der Charakterisierung Einzelner, werden sie ein Brunnenschacht, der den hochsensiblen Canetti in die Tiefe der Seele blicken lässt; immer wieder entwickelt sich ein „Augenspiel“ zwischen Protagonisten, das die Qualität ihrer Begegnung umschreibt. Die scheue Bildhauerin Anna Mahler übt Macht, ja eine regelrechte Herrschaft auf den Autor mit ihren Augen aus, die ihn nicht mehr loslassen: „Sie bestand aus Augen, was immer sonst man in ihr sah, war Illusion.“ An einer Stelle geht er sogar so weit zu sagen, Annas Augen hätten ihn „erschaffen“. Aber diese Augen sind auch gefährlich, denn, wie Canetti von seiner späteren Frau Veza erfährt, worauf Anna „ihre Augen einmal gerichtet habe, damit müsse sie spielen, das müsse sie für sich gewinnen, wie einen Knäuel, einen Gegenstand, nicht wie etwas Lebendes“. Er selbst scheint dafür nicht infrage zu kommen, was ihn stärker verletzt als erleichtert haben muss. Den merkwürdig gedämpft wirkenden Maler Oskar Kokoschka lernt er in Prag kennen und spürt alsbald sein „Oktopus-Auge“ auf sich ruhen. Wenngleich er es sich selbst gegenüber nicht als feindlich empfindet, liege es gleichwohl reglos auf der Lauer und erspähe „seine Beute mit unnachsichtiger Kraft“. Skurril wirken die argwöhnischen Blicke, die sich Canetti und der Schriftsteller Franz Werfel während eines Konzertes aus den Augenwinkeln zuwerfen: Er bemerkt, dass ihn während der Musik das ganz nach rechts gedrehte Auge Werfels glotzend fixiert und dreht seines selbst so weit wie möglich nach links. Die beiden Augen weichen sich zuerst wie ertappt aus, bleiben aber bald starrend ganz aneinander haften. Nach dieser merkwürdigen ersten Begegnung entsteht kein unverkrampfter Kontakt zwischen Werfel und Canetti mehr.
Schließlich die Blicke der Mutter auf dem Sterbebett im Jahr 1937. Zu ihr hat ihr ältester Sohn Elias fast zeitlebens ein ausgesprochen schwieriges Verhältnis; sein jüngster Bruder Georg fasst es zum Schluss mit den lapidaren Worten zusammen: „Ihr habt die Macht, einander zu töten.“ Seit einer Phase heftiger Auseinandersetzungen Mitte der Zwanzigerjahre ist Elias auf Distanz zu ihr gegangen, zeitweise hat auch sie die Verbindung ganz abgebrochen. Immerhin erhält er ihre wenn auch etwas vereinnahmende Anerkennung, nachdem sein erstes Buch, der Roman „Die Blendung“, 1934 erschienen war. Als sie im Sterben liegt und er zu ihr nach Paris kommt, überrascht er sie mit intensiv duftenden Rosen, die angeblich aus dem Garten der Familie in ihrem bulgarischen Heimatort Rustschuk stammen – sie glaubt ihm die wohlgemeinte Unwahrheit, genießt den Duft und öffnet sich dem eigenwilligen Sohn schrittweise, aber mit bleibenden Vorbehalten. Wieder sind es die Augen, die, wenigstens vorübergehend, die Art der Begegnung signalisieren: „Ihre Augen gewannen an Größe und Glanz, jeden Morgen, wenn ich sie zuerst sah, fühlte ich mich von diesem Blick ergriffen.“ Bei alledem bleibt ihm jedoch sehr bewusst, dass ihn ohne seine vollzogene Abnabelung das Schicksal des jüngsten Bruders erwartet hätte, der als Arzt stets zu ihren Diensten steht und sich kein eigenes Leben zubilligt. Als die drei Brüder schließlich hinter dem Sarg der Mutter quer durch Paris zum Friedhof Père Lachaise laufen, wird er ergriffen von einer Gefühlsmischung aus Stolz und Bewunderung für sie, Trotz gegen die Lebenden, die den Weg säumen, und einer Auflehnung gegen den Tod. Aber er weiß auch, dass sein Leben ohne sie weitergehen wird – im Gegensatz zu Georg hat er in der Zwischenzeit zu sich selbst gefunden und steht im Kontakt mit herausragenden Geistesgrößen seiner Zeit.
Auch der dritte Teil von Elias Canettis Lebenserinnerungen ist ein Lesegenuss – ein Genuss allerdings, der dem Leser bisweilen einen zweiten oder dritten Blick abverlangt. Ein solcher geistiger und sprachlicher Reichtum lässt sich auch kaum auf den ersten erfassen.
Malte Heidemann